Ein Modell der Gruppenentwicklung

Ein Modell der Gruppenentwicklung

Quelle: Karl E. Weik, Der Prozeß des Organisierens, S. 134

Einleitung

Oft wir behauptet, das Gruppen Ziele brauchen, sich um Ziele herum organisieren, um erfolgreich miteinander arbeiten zu können. Im folgenden Text wird im Gegenteil dazu aufgezeigt, dass Mitglieder nur einander ergänzende Mittel dauerhaft zur Verfügung stellen und sie anwenden, ohne dabei gleich gemeinsame Ziele (Vision, Sinn, …) haben zu müssen, um auch erfolgreich und nachhaltig miteinander arbeiten zu können. Daraus folgt aber auch, dass Führungskräfte sich weniger mit der Formulierung von gemeinsamen (Organisations-) Zielen beschäftigten, sondern sich mehr auf die Bereitstellung von adäquaten Mittel für ihre Mitarbeiter innerhalb der Organisation konzentrieren sollten.

(1) verschiedene Ziele ==> (2) gemeinsame Mittel

Der entscheidende Punkt ist, dass Leute eher bezüglich der Mittel übereinstimmen als bezüglich der Ziele. Menschen kommen zusammen, weil jeder irgendeine Handlung ausführen will und darauf angewiesen ist, dass die andere(n) Personen(en) bestimmte Dinge tun, um die Durchführung möglich zu machen. Um kollektiv zu handeln, müssen sich die Leute nicht über die Ziele einig sein. Sie können recht verschiedene Zwecke aus recht unterschiedlichen Gründen verfolgen. Alles was einer vom anderen in diesem Anfangsstadium der Gruppenentwicklung verlangt, ist die dauerhafte Mitwirkung an ihrer Aktion. Warum die Personen der Mitwirkung zustimmen oder warum diese Mitwirkung benötigt wird, ist sekundär gegenüber der Tatsache, dass sie geleistet wird. Es liegt keine unmittelbare Notwendigkeit für ein gemeinsames Ziel vor, statt dessen liegt nur eine Verpflichtung zur Verfolgung verschiedenartiger Ziele mit dem gemeinsamen Mittel kollektiv strukturierten Verhaltens vor.

Partner in einer kollektiven Struktur teilen Raum, Zeit, Energie miteinander, sie müssen nicht Visionen, Sehnsüchte und Absichten teilen. Dieses Teilen kommt sehr viel später, wenn es überhaupt kommt.
Karl E. Weik

Für die Führungskräfte von Organisation beutet dies, sich einerseits einzugestehen, dass mehr Mitarbeiter als bisher gedacht, ihnen nur ihre jeweils ergänzenden Mittel zur Verfügung stellen und dabei weiterhin ihre individuellen Ziele und nicht notwendigerweise die Organisationsziele verfolgen und anderseits zu verstehen, dass trotzdem kollektiv und durchaus erfolgreich gearbeitet werden kann, wobei dabei auch ihren individuellen Zielen (Umsatz, Gewinn, Qualität, Karriere, …) als Führungskraft gedient ist.

Ein weiterer Konsequenz für Führungskräfte ist, statt viel Zeit und Energie mit der Formulierung von gemeinsamen Zielen, Visionen, Sinn u.ä. zu vergeuden, es besser und auch einfacher ist, sich vornehmlich darauf zu konzentrieren, den Mitarbeitern Mittel zur Verfügung zu stellen, mit denen sie ihre jeweiligen Ziele erreichen können.

Beispiel: Wenn Mitarbeiter Eltern werden, haben sie (hoffentlich) das Ziel, mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Statt nun Ziele wie „Wir sehen uns als EINE Familie“ oder „Wir behandeln Mitarbeiter wir Familienmitglieder“ o.ä. zu formulieren, was viele eher als eine Drohung wahrnehmen, wäre es angebrachter familienfreundliche Arbeitszeiten einzuführen, also ein Mittel bereit zu stellen, mit dem die Eltern ihr persönliches Ziel verfolgen können. Damit steigt aber auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Mitarbeiter im Gegenzug bisher zurückgehaltene Mittel zur Verfügung stellen, dass zB Mitarbeiterin (in Österreich) nicht nach zwei, sondern schon nach einem Jahr aus der Karenz zurückkommen.

Einschub StartUp-01: Deshalb werden die Mitglieder in eine StartUp eher wegen der Dinge (=Mittel) geschätzt, die sie nicht miteinander gemein haben, als wegen derer, die sie gemein haben.

(2) gemeinsame Mittel ==> (3) gemeinsame Ziele

Es kann, muss aber nicht passieren, dass wenn Mitglieder einmal über ineinandergreifende Tätigkeiten als Mittel zur Erreichung verschiedener Ziele übereinstimmen, es zu einer subtilen Verschiebung weg von von verschiedenartigen und hin zu gemeinsamen Zielen kommt, wobei die verschiedenen Ziele weiterhin bestehen bleiben, aber einem entstehenden Satz von gemeinsamen Zielen mehr oder minder untergeordnet werden.

Eine der ersten gemeinsamen Ziele ist das der Erhaltung und Fortdauer der kollektiven Struktur, die ein nützliches Instrument gewesen war, welches den Individuen half, das zu bekommen, was sie wollen. Ein Indikator für diese Übereinstimmung finden sich in der Formulierung und Durchsetzung von Normen, der Kategorisierung von Mitgliedern und Handlungen, größerer Regelmäßigkeit in der Form und Häufigkeit der Kommunikation und Verdeutlichung der Grenzen.

Beispiel: Die obigen Eltern wissen, das Kinderziehung ein längerfristige Projekt mit vielen unerwarteten Einschnitten, wie Krankheit, Unfälle, .. usw ist und bemerken, dass andere Organisation keine familienfreundlichen Arbeitszeiten anbieten. Sie können sich auch gezwungen sehen, einen Kredit für eine neue größere Wohnung oder Haus bzw. für dessen Adaptierung und Umgestaltung aufzunehmen. In beiden Fällen ist es eher wahrscheinlich, dass die Erhaltung und Fortdauer der kollektiven Struktur für sie von größerem Interesse wird und sie es daher zu einem gemeinsames Ziel machen.

Auch wenn die Vielfalt der Ziele charakteristisch bleibt, kann es zu weiteren gemeinsamen Zielen kommen, aber auch hier gilt, dass gemeinsame Ziele gemeinsamen Mittel (=Handlungen) folgen, statt ihnen voranzugehen. Sinn ist oft retrosperktiv, nicht prospektiv, d.h. das Handlungen werden aus irgend welchen Gründen gesetzt und erst wenn sie beendet sind, ist es möglich sie kritisch zu beleuchten und zu erkennen, welche Entscheidungen getroffen wurden und welche Absichten, welche Ziele möglicherweise dahinter standen und welchen Sinn sie machen.

Gemeinsame Ziele sind Ziele, die an tatsächlich ablaufenden Verhaltensweisen in der Gruppe gebunden sind und hauptsächlich der Erhaltung der kollektiven Struktur dienen.
Karl E. Weik

Beispiel: Führungskräfte können Ziele wie „Wir gehen in unserem Unternehmen respektvoll miteinander um“ oder „ In Meetings werden wir einander aktiv zuhören und den anderen nicht unterbrechen“ vorgeben, aber deswegen sind sie noch lange nicht gemeinsame Ziele. Erst wenn der Mitarbeiter ein Verhalten der Führungskräfte beobachtet und im Nachhinein dies als ein „respektvolles“ Verhalten interpretiert und darin auch retrosperktiv einen Sinn für sich erkennen kann, kann dies zu einem gemeinsamen Ziel werden.

Tipp: Statt es als Ziel zu formulieren, das meist wenig glaubwürdig ist, denn die Erfahrung der Mitarbeiter ist oft eine andere, sollten Führungskräfte es zum Mittel machen. Sie sollten sich, ohne es groß anzukündigen, einfach respektvoll verhalten und früher oder später wird es als ein Verhalten, das als gemeinsames Ziel Sinn macht, von den meisten Mitarbeiter übernommen. „Gewonnen“ haben sie, wenn die Mitarbeiter von sich aus meinen: „Eigentlich gehen wir alle, Führung und Mitarbeiter, in unserem Unternehmen meisten recht respektvoll miteinander um“.

Einschub StartUp-02: In den ersten Stadien eines StartUps treten häufig launenhafte, selbstorientierte Handlungen von Mitglieder auf. Mit Hilfe des hier vorgestellten Modells werden die möglichen Ursachen klarer, denn es mögen zwar einige Verhaltensweise auf ein anfängliches gemeinsames Ziel gerichtet sein, die meisten sind es aber eben nicht!

(3) gemeinsame Ziele ==> (4) verschiedene Mittel

Ein weiterer, möglicher Entwicklungsschritt tritt auf, wenn der Gemeinsamkeit der Ziele Verschiedenartigkeit der Mittel folgt. Dafür gibt es mehrere Gründe:

1. Es ist typisch, dass Gruppen, wenn einmal auch Übereinstimmung bezüglich gemeinsamer Ziele besteht, es zu einer Teilung der Arbeit kommt, um die Erfüllung der Arbeit zu erleichtern und um die vorhandenen Ressourcen intensiver auszubeuten. Hierarchien, aber auch Projektgruppen, (Fach-) Abteilungen, Teams sind ein gutes Beispiel dafür. Nur tendieren Gruppen und Mitarbeiter, wenn sie sich auf Aufgaben spezialisieren, ihrer Teilaufgabe mehr Aufmerksamkeit zu widmen und sich weniger für das große Ganze zu interessieren. Ihr Verhalten (=Mittel) verändert sich, wird verschiedenartiger.

2. Eine dauerhafte kollektive Struktur legt der sich ständig wandelnden Welt Stabilität und Ordnung auf, um das gemeinsamen Ziel der Aufrechterhaltung der kollektiven Struktur zu gewährleiste. Wenn aber ein Teil der sich stetig ändernden Welt Ordnung auferlegt wird, so können andere Teile im Vergleich dazu noch ungeordneter, unvorhersehbarer und mehrdeutiger erscheinen. Auf Ambivalenz, auf Mehrdeutigkeit reagieren Menschen aber oft sehr unterschiedlich und daher begünstigt sie die Verschiedenartigkeit des Handels (=verschiedenartige Mittel).

Der Kontrasteffekt: Genau deshalb, weil ein Teil der Welt sinnvoll erscheint, erscheinen die anderen Teile um so weniger sinnvoll.
Kelly und Thibaut

3. Die bisher beschriebenen Entwicklungsstufen zeichnen sich vor allem durch Gemeinsamkeiten (1. in den Mittel, 2. in den Zielen) aus und es sind Ausgleich, Übereinstimmung, Zugeständnisse und Kompromisse erforderlich, damit die Gruppe intakt bleibt. Wechselseitige Abhängigkeit bringt Kosten mit sich, und diese Kosten werden in den späteren Entwicklungsstufen einer Gruppe immer deutlicher sichtbar. Aufgrund dieser Kosten kann, muss es aber nicht dazu kommen, dass einzelne Gruppenmitglieder wieder Wert auf die Wiederherstellung und Behauptung ihrer Einzigartigkeit legen, mit dem Ziel sich durch Verschiedenartigkeit in den Handlungen (=Mittel) von ihren Gruppenmitglieder abzugrenzen.

Diese Abgrenzung kann nicht nur zur Erhaltung der Identität, sondern auch taktisch und politisch eingesetzt werden, um zB die eigene Karriere voran zu treiben. Dann wird oft nicht nur durch ein anderes Verhalten auf sich aufmerksam gemacht, sondern auch dadurch, dass man nicht auf gemeinsame Mittel zurückgreift, sondern neue und verschiedenartige Mittel einführt, mit der Behauptung, dass nur so das gemeinsame Ziel der Aufrechterhaltung der Struktur gewährleistet werden kann. Ähnliches gilt für Abteilungen, wobei hier eher damit argumentiert wird, dass ihre Spezialisierung auch neuer spezieller Mittel bedarf. Ob dies stimmt, ob es Sinn macht, lässt sich leider, wie weiter oben ausgeführt, meist erst im Nachhinein feststellen. Oft sind dies nur gemeinsame Ziele für eine Gruppe (Abteilung) innerhalb der Organisation und sind damit aus der Sicht der (Gesamt-) Organisation verschiedenartigen Ziele.

Beispiele: Vor allem das mittlere Management in Konzernen zeichnet sich durch die Einführung neuer Methode aus, oft zum Leidwesen der Mitarbeiter. Abteilungen, die immer das Neueste vom Neuesten einsetzen wollen. Aber auch der/die Nachfolger/in in einem Familienbetrieb ist meist davon überzeugt, dass nur neue Mittel den Familienbetrieb retten können, was zu Konflikten vor der Übergabe führen kann oder sie in manchen Fällen sogar verunmöglicht.

Einschub Innovation: Verbesserung der Mittel sind keine verschiedenartige Mittel und können daher in diesem Stadium (2-3) integriert werden. Innovation im engeren Sinn, sind neue und verschiedenartige Mittel (4), die aus sich heraus verschiedene Ziele (1) erzeugen (Wem gehört die Innovation? Wer bekommt was, wofür? Wer darf was, wann, wie und warum damit machen? Inividuum <=> Gruppe).

(4) verschiedene Mittel ==> (1) verschiedene Ziele

Weil in dieser Entwicklungsstufe sowohl die eingesetzten Mittel als auch das Verhalten der Mitglieder immer verschiedenartiger wird, ist es wahrscheinlich, dass die Mitglieder beginnen verschiedene Ziele zu verfolgen. Vorlieben und Wünsche werden auseinanderfallen, die in Stufe Zwei den gemeinsamen Zielen untergeordneten individuellen Ziele treten wieder an erste Stelle und die Gruppe wird aufs neue aus Mitglieder mit verschiedenartigen Zielen bestehen.

Wenn die Gruppe aus nur einem Satz von ineinander verschränkten Verhaltensweisen besteht, die sich entflechten, sobald die Aufgabe erledigt ist, beschreibt dieses Modell die gesamte Geschichte der Gruppe.

Wenn die Gruppe aber aus unübersichtlich vielen ineinander verschränkten Verhaltensweisen besteht, was Organisationen meistens tun, und sie zusammen bleiben will, so steht sie vor einer veritablen Krise. Sie hat viele verschiedene Mittel (4) und zu viele verschiedene Ziele (1). Führungskräfte tendieren in dieser Situation dazu gemeinsame Ziele für die Organisation zu formulieren (3), aber dies wäre eine Bewegung entlang der Diagonale des Modell, dies es wohlbegründet nicht gibt. Das Modell legt für so eine Situation nahe, dass sich die Führung wieder auf die Auffindung von bzw Konzentration auf gemeinsamen Mittel (2) macht [zB die Innovation integriert 4 => 1 => 2] und darauf hoffen darf, dass so wieder gemeinsame Ziele entstehen und sie in den Vordergrund treten (3).

Hier soll daran erinnert werden, dass die meisten Mitarbeiter nur mit den gemeinsame Mittel (2) und einige auf Grund ihrer persönlichen Ziele auch mit dem gemeinsame Ziel der Erhaltung der Struktur übereinstimmen (3), dass die meisten Mitarbeiter einfach nur ihren Job machen. Was Führungskräfte am Anfang als Nachteil empfunden haben mögen, wird hier zum Vorteil, denn diese Mitarbeiter haben keine verschiedenartige Mittel (4) und keine verschiedenartige Ziele in die Organisation eingebracht (1), sie sind im positive Sinn Mitläufer. Sie sind nur an gemeinsamen Mitteln (2) interessiert und solange dies garantiert ist, folgen sie den Führungskräften, wo immer diese die Organisation hinführen mögen.

Christopher Temt

Quelle: Karl E. Weik, Der Prozeß des Organisierens, 1995, S. 131ff. Wobei mich diese Buch, einer der zehn wichtigsten Wirtschaftsbücher, so fasziniert hat, dass ich 2019 beschlossen habe, mich intensiv damit auseinander zu setzen. Der beste Weg für mich ist, über einzelnen Themen des Buches Artikel, wie diesen hier, zu schreiben und so zu lernen. Daher sind auch viele Stellen mehr oder minder wortwörtlich entnommen, ohne dass sie ausdrücklich als Zitat ausgewiesen werden.